Das Kraniopharyngeom und seine Behandlung kann für die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu Spätfolgen wie Essstörungen und ausgeprägter Adipositas führen, die ihre Lebensqualität nachhaltig beeinflussen. Er steht zu erwarten, dass hierdurch Erfolge in der sozialen Reintegration und der Rehabilitation in Schule und Beruf beeinflusst werden und auch Auswirkungen auf die langfristige Lebensplanung bestehen.
Eine recht umfassende Beschreibung dessen, was der Begriff ´Lebensqualität´ beinhaltet kann in Anlehnung an Bradlyn (1995) als die Wahrnehmung eines Individuums bzgl. seiner Position in der Lebenswirklichkeit seines Kultur- und Wertsystems unter Berücksichtigung seiner Ziele, Erwartungen, Möglichkeiten und Befürchtungen beschrieben werden. Ebenfalls beinhaltet sind die soziale, seelische und physische Funktionalität (des Kindes und Jugendlichen, auch in der Familie).
Bezogen auf die Lebensqualität im medizinischen Kontext (z.B. im Zusammenhang mit Therapiestudien) wird zumeist von der „gesundheitsbezogenen Lebensqualität“ gesprochen. Hierbei handelt es sich um ein mehrdimensionales Denkmodell, das körperliche, emotionale, mentale, soziale und verhaltensbezogene Anteile des Wohlbefindens und der Funktionsfähigkeit aus der Sicht des Patienten und/oder von Beobachtern beinhaltet. Im Zusammenhang mit einer einzelnen Krankheit bzw. einer umschriebenen Gruppe von Erkrankungen spricht man von „krankheitsspezifischer (z.B. krebsspezifischer) Lebensqualität“, die sich auf den Erfahrungshintergrund genau dieser Gruppe von Erkrankungen bezieht.
Die Frage, ob Lebensqualität für ein Kind, einen Jugendlichen und einen (jungen) Erwachsenen das Gleiche bedeutet, kann sicherlich verneint werden. Wird im Kindesalter Lebensqualität durch Faktoren wie emotionale Geborgenheit (in der Familie), den Kontakt zu Freunden sowie über das Ausleben physischer Aktivität (z.B. rennen, klettern und spielen) bestimmt, rücken für den Jugendlichen Aspekte wie Akzeptanz in der Altersgruppe (peer group), eigenes Aussehen, Realisierungsgrad von Selbstbestimmung und Ausbildung in den Vordergrund. Das eigene Körperbild (die Kenntnis des eigenen Körpers, die eng verbunden ist mit dem Körpergefühl, das Informationen über die qualitative Beschaffenheit des Körpers - z.B. dick/dünn, groß/klein, kalt/warm, leicht/schwer - vermittelt) wird zunehmend wichtiger. Für den jungen Erwachsenen werden Gesichtspunkte wie materielle Autonomie (Geld verdienen, eigene Wohnung), das Erreichen des Ausbildungs- und Berufsziels und eine (feste) Partnerschaft zu wichtigen Kriterien der Bewertung aktueller Lebensqualität.
Natürlich wissen wir, dass sich eine Erkrankung bei Betroffenen unterschiedlich auf die Lebensqualität auswirken kann. Das gilt auch in der Onkologie. Aber es bestehen auch Gemeinsamkeiten. So kann davon ausgegangen werden, dass bei Kleinkindern Erkrankung und Behandlung die kontinuierliche Einbettung in die Familie stören, über die sich Vertrauen und ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln. Als zusätzlich belastend kann der im stationären Behandlungsrahmen regelmäßig auftretende Umstand wahrgenommen werden, dass Erwachsene, denen das Kind vertraut, ihm Schmerzen zufügen. Zudem können Hospitalisierung, Behandlung und Trennung zum Entwicklungsstillstand oder -rückschritt führen.
Das sich über die Kindheit, besonders aber bei Jugendlichen entwickelnde zunehmende natürliche Verlangen nach Abgrenzung gegenüber dem Elternhaus und das tatsächlich wachsende Vermögen zur Eigenständigkeit, erfährt oft einen erheblichen Rückschlag. Die durch die Erkrankung und Behandlung auftretenden physischen Probleme führen bei vielen Patienten dieser Altersgruppe wieder zu einer stärkeren Abhängigkeit z.B. von den Eltern. Veränderungen des Körperbildes und die verminderten Freiräume unter Behandlung können die Möglichkeiten von Beziehungen mit Gleichaltrigen beeinflussen.
Die systematische Erfassung von Informationen zur Lebensqualität durch Befragung von Betroffenen kann im Zusammenhang mit der Behandlung von Tumoren zusätzliche Informationen bereitstellen, um verschiedene Behandlungswege (z.B. innerhalb eines Therapieprotokolls) gleicher Heilungsrate miteinander vergleichen zu können (ergänzende Informationen zu Überlebensdaten).
Über wiederholte Erhebungen der Lebensqualität im Therapieverlauf können erkrankungs- und/oder behandlungsbedingte Veränderungen z.B. in psychosozialen Funktionsbereichen beschreiben werden. Die Informationen zur Lebensqualität können ggf. dabei helfen, Patientengruppen zu beschreiben, die während Behandlung, Rehabilitation und Nachsorge aufgrund ihrer Belastungsmerkmalen einer besonderen Aufmerksamkeit und Unterstützung bedürfen.
Grundsätzlich ist vor diesem Hintergrund festzustellen, dass die Einbeziehung von Informationen zur Lebensqualität der Betroffenen eine hohe Bedeutung besitzt. Die Erhebung der Lebensqualität ist daher fester Bestandteil des aktuellen Protokolls „Kraniopharyngeom 2000“.
Aus dem Gesagten wird unmittelbar deutlich, dass eine differenzierte Erfassung der Lebensqualität eines Menschen die oben genannten Teilaspekte berücksichtigen und dem Individuum die Möglichkeit einer Bewertung dieser Aspekte einräumen muss. In der wissenschaftlichen Forschung wird Lebensqualität zumeist mittels Fragebögen erfasst. Erfolgt eine Befragung zur Lebensqualität bei Patienten (z.B. im Zusammenhang mit medizinischen Behandlungsstudien) werden hierauf abgestimmte Fragebögen eingesetzt, die die gesundheitsbezogene Lebensqualität vor dem speziellen Erkrankungshintergrund erfassen. Fragebögen, die bei Kindern oder Jugendlichen eingesetzt werden, müssen den altersabhängigen Entwicklungsveränderungen Rechnung tragen. Von besonderer Bedeutung bei der Erfassung der Lebensqualität von Kindern oder Jugendlichen ist es, von den Eltern parallel eine Einschätzung zur Lebensqualität des Kindes zu erhalten (ebenfalls über Fragebögen). Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Lebensqualitätsbewertung können so ermittelt werden und dienen z.B. dem besseren Verständnis der familiären Interaktionen.
An dieser Stelle kann und soll kein Überblick über die Gesamtheit der bisher im deutschen Sprachraum eingesetzten Fragebögen gegeben werden. Da Informationen zur Lebensqualität der Kinder erfasst werden sollen, ist es wünschenswert, dass die Kinder die Bögen selbst ausfüllen können. Besonders bei den kinderonkologischen Erkrankungen besteht aber eine - bezogen auf die unterschiedlichen Erkrankungen - große Altersspanne. 60 Prozent aller Neuerkrankungen betreffen Kinder unter 8 Jahren. Es wird jedoch generell davon ausgegangen, dass Kinder unterhalb dieses Alters aufgrund der fehlenden Sprachmöglichkeiten nur begrenzt selbst Auskunft über ihre Lebensqualität geben können.
Dies bedeutet, das altersspezifische Messinstrumente bereitzustellen sind. Für Kinder unterhalb eines bestimmten Alters müssen sog. „Proxies“ (meist die Eltern) befragt werden, wobei zwar durch die Eltern die physische Funktionalität des Kindes beurteilbar ist, über die emotionale Funktionalität jedoch nur eine unzureichende Aussage gemacht werden kann.
Ein häufig eingesetzter Fragebogen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität ist der KINDL (Ravens-Sieberer & Bullinger, 2000). Ein auch international eingesetztes krebsspezifisches Instrument ist der PEDQJL (Calaminus, 2000). Der PEDQJL enthält Fragen zu den Bereichen (Domänen) körperliche-, emotionale- und soziale Funktion (Familie, Freunde), Kognition/Lernfähigkeit, Autonomie, Schmerz, Angst bezogen auf die Krankheit, Körperbild.
Um eine Vorstellung von der Art der Frageformulierung zu bekommen, sind nachfolgend einige Fragen (Items) aus dem Bereich „Kognition/Lernfähigkeit“ (PEDQJL-Fragebogen) aufgeführt, wobei sich die Fragen immer auf die zurückliegende Woche beziehen:
„In der letzten Woche...
...fiel es mit leicht neue Dinge zu lernen
...fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren
...war ich genauso schlau wie alle Anderen aus der Klasse“.
Um die ersten nachgenannten Ergebnisse, die sicher noch als zum Teil vorläufig zu bezeichnen sind, besser einordnen zu können, sind vorab zwei Informationen hilfreich: auch gesunde Kinder bewerten ihre Lebensqualität nicht in allen Bereichen ausschließlich positiv und es überrascht nicht, dass Eltern in einigen Bereichen die Lebensqualität ihrer erkrankten Kinder anders bewerten, als die Kinder selbst.
Ergebnisse einer rückblickenden Befragung zur Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen nach Hirntumor
Die Erfassung der Lebensqualität bei pädiatrischen Patienten (s. Tabelle 1) nach Hirntumorbehandlung erbrachte zunächst das Ergebnis (Tabelle 2), dass verglichen mit Gesunden alle untersuchten Patientengruppen unabhängig von der Art des Hirntumors die körperliche Funktionsfähigkeit und das Sozialverhalten bezogen auf Freunde negativer bewerten.
Tumorart | Anzahl | Altersdurchschnitt |
---|---|---|
Medulloblastom/PNET | 64 | 14,4 Jahre |
Kraniopharyngeom | 121 | 13,3 Jahre |
Maligner Keimzelltumor | 48 | 16,6 Jahre |
Jedoch fallen im Vergleich der Hirntumorarten auch Bereiche mit unterschiedlicher Bewertung auf. So sehen sich Patienten nach Medulloblastom/PNET zusätzlich besonders in der Leistungsfähigkeit des Gehirns eingeschränkt, bewerten ihre erlebte Autonomie jedoch sogar positiver als der Durchschnitt der Gesunden. Letzteres gilt auch für Patienten mit Kraniopharyngeom, die sich jedoch im Bereich „Emotion“ besonders zusätzlich beeinträchtigt sehen.
Patienten mit der Diagnose „ZNS-Keimzelltumor“ bewerten neben ihrem Körperbild ihr Erleben von Autonomie besonders negativ. Dies ist in erster Näherung durch den mit dem Alter wachsenden Wunsch nach Autonomie erklärbar, der vor dem Hintergrund der Erkrankung nicht in adäquatem Maße umgesetzt werden kann. Da Patienten mit Keimzelltumoren bei Diagnose meist schon älter sind, spielt die Autonomieentwicklung in dieser Diagnosegruppe eine verhältnismäßig große Rolle.
Bereiche der Lebensqualität | Alter MW |
Norm 12,7 J |
Medulo 14,41 J |
Kranio 13,30 J |
ZNS KZT 16,64 J |
---|---|---|---|---|---|
Autonomie | Median | 52,08 | besser |
besser |
schlechter |
Emotionales Verhalten | Median | 43,75 | -- |
schlechter |
-- |
Körperliche Funktionen | Median | 43,75 | schlechter |
schlechter |
schlechter |
Kognition | Median | 50,00 | schlechter |
-- |
-- |
Körperbild | Median | 50,00 | -- |
besser |
schlechter |
Freunde | Median | 43,75 | schlechter |
schlechter |
schlechter |
Familie | Median | 43,75 | -- |
-- |
besser |
Aus diesen Ergebnissen kann ein erster Schluss dahingehend gezogen werden, dass:
Es steht zu erwarten, dass prospektiv gesammelte Informationen (d.h. hier, die Datenerfassung erfolgt ab dem Zeitpunkt der Diagnose und wird im Verlauf der Studie wiederholt) zur Lebensqualität helfen können, Risikogruppen zu definieren, die einer besonderen Aufmerksamkeit und Unterstützung bedürfen.
Für Menschen, die an einem Kraniopharyngeom erkranken, bestehen gute Heilungsaussichten. Trotzdem kommt es im Zuge der Erkrankung zur Zerstörung sensibler hormonbildender Strukturen und infolge dessen zu Störungen der Regulationsfunktionen für Aktivität, Schlaf, Körpergewicht (steigender Body Mass Index) und ggf. weiterer Funktionsbereiche. Aufgrund solcher Spätfolgen werden negative Auswirkungen auf die Lebensqualität erwartet.
Die Frage nach der Bewertung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität durch Patienten mit Kraniopharyngeom berücksichtigt den Behandlungsverlauf mit den Eckpunkten Operation, (ggf. zusätzliche) Bestrahlung und Nachbeobachtung. Darüber hinaus sind die bereits genannten Faktoren zu beachten, von denen ein Einfluss auf die Lebensqualität angenommen wird.
Nachfolgend soll zu diesen Einzelaspekten der gegenwärtige Kenntnisstand umrissen werden. Hierbei wird zunächst auf Ergebnisse retrospektiver Untersuchungen (rückblickende Erhebung nach Behandlungsende) der Lebensqualität bei Patienten mit Kraniopharyngeom Bezug genommen. Daran anschließend werden erste Informationen aus der laufendenden prospektiven Erhebung (ab Diagnose werden wiederholt Daten erhoben) der gesundheitsbezogenen Lebensqualität berichtet, die Bestandteil der Therapiestudie „Kraniopharyngeom 2000“ der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) und des Deutschen Kraniopharyngeomforums (DKF) ist.
Gemeinsam ist den Studie u.a., dass die PEDQJL-Fragebögen eingesetzt sind. (verwendet wird der PEDQJL-Fragebogen in der Patientenversion für 6 – 18 Jahre und der Elternfassung).
Dabei zeigt der Vergleich zwischen den Patienten mit Kraniopharyngeom und Gesunden Unterschiede der Lebensqualität in den Domänen „Autonomie“, „Emotion“, „körperliche Funktionen“ und „soziale Funktion“ (Freundeskontakt). Bis auf die erlebte Autonomie wurden dabei die übrigen drei Bereiche durch die Patienten mit Kraniopharyngeom signifikant schlechter als von den Gesunden bewertet.
Im Hinblick auf die Operation bei Patienten mit Kraniopharyngeom ist festzustellen, dass:
Ansonsten besteht keine unterschiedliche Bewertung der Lebensqualität.
Bei Patienten mit Adipositas (BMI > 3 SD) zeigt sich rückblickend im Vergleich zu Patienten ohne Adipositas (BMI < 2 SD) eine signifikant negativere Bewertung in den Bereichen körperliche Aktivität und soziale Beziehung.
Die Bewertung der Lebensqualität bei Patienten mit inkompletter Tumorresektion und zusätzlicher Bestrahlung unterscheidet sich rückblickend nicht signifikant von Patienten ohne zusätzliche Bestrahlung.
In und während der Nachsorge zeigt sich eine eingeschränkte Lebensqualität in einer verminderten Zufriedenheit mit der Beziehung zu Freunden und mit körperlichen Funktionsbereichen. Diese Beobachtungen sind in der Regel bereits während der Therapie sichtbar. Auch lässt sich ein negativer Zusammenhang der Lebensqualität mit dem BMI aufzeigen, d.h., je höher der BMI, desto schlechter die Einschätzung der Lebensqualität.
Im Rahmen der Therapiestudie „Kraniopharyngeom 2000“ werden Patienten im Alter zwischen 6 und <18 Jahren sowie deren Eltern zu 4 Zeitpunkten zur Lebensqualität befragt (E1 = präoperativ, E2 = 3 Monate nach Resektion, E3 = 1 Jahr nach Resektion und E4 = 2 Jahre nach Operation).
Im Vergleich zwischen Patienten und Eltern ergeben sich bislang folgende Resultate:
Im Vergleich der Lebensqualitätsbewertung zwischen Patienten und Eltern zeigen sich längerfristig die folgenden vorläufigen Ergebnisse:
Die derzeit vorliegenden Ergebnisse lassen erste Blicke auf die Sicht der Lebensqualität bei Patienten mit Kraniopharyngeom zu. Dabei zeigt sich, dass:
Die weitere Forschung in diesem Bereich muss besonders darauf abzielen, die Patienten mit besonderen Risiken im Bereichen z.B. der psychosozialen Integration aufzufinden um hier eine geeignete fachliche Unterstützung sicherzustellen.
Dr. med. G. Calaminus
Universitätskinderklinik Düsseldorf
Klinik für Kinder-Onkologie, -Hämatologie und -Immunologie
Arbeitsgruppe Lebensqualität
Moorenstr. 5
D-40225 Düsseldorf
Telefon: 0211-81-16567
Telefax: 0211-81-16038
E-Mail: calaminus @ med.uni-duesseldorf.de
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